Sehr geehrter Herr Bürgermeister Rübo,
sehr geehrter Ehrenbürger der Stadt Kempen,Herr Herrmans,
sehr geehrter Herr Wüllems,
meine Damen und Herren!
Überschattet von zwei unterschiedlichentragischen Ereignissen in Thüringen und Hanau stehen wir hier, um der Befreiung Kempens von der Nazi-Herrschaft heute vor 75 Jahren zu gedenken. Es ist für mich eine große Ehre, hier reden und mitwirken zu dürfen. Herzlichen Dank an Herrn Bürgermeister Rübo.
Als der damalige Bundespräsident Richard vonWeizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes eine beeindruckende, heutenoch aktuelle, Rede hielt, war ich auf der Flucht. Mittlerweile kann ich die Rede dieses bedeutenden Politikers fast auswendig.Vielleicht sollten wir in Kempen überlegen, ob unsere Gesamt schule seinen Namen tragen sollte.
Ich bin immer froh und glücklich gewesen, dass ich meine Heimat in Deutschland gefunden habe. Als viele meiner Freunde und Familienmitglieder von Deutschland aus nach Kanada oder England auswanderten, als ich mich in Deutschland niederließ, habe ich an dieses großartige Land fest geglaubt. Mittlerweile aber kommen mir langsam Zweifel. Integration braucht Vertrauen! Dieses Vertrauen wird zunehmend aufgeweicht. Unter den Menschen mit Migrationshintergrund herrscht große Unsicherheit. Ich möchte nicht zum zweite mal Fremder im eignen Land sein, meine Damen und Herren.
Heute, 75 Jahre nach der Befreiung der Stadt Kempen, ist Deutschland gespalten. Nationalismus, Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind im Vormarsch. Herabsetzende Worte wie „Neger“ und „Jude“ werden zunehmend auch in unserem Umfeld salonfähig. Wenn man sich keinen teuren Anwalt leisten kann, werden Anzeigen wegen Beleidigungen durch die Staatsanwaltsschaft auf die lange Bank geschoben und später eingestellt. Rechte Straftaten werden verharmlost und klein geredet. Immer häufiger kommen Anschläge vor. Wenn sie verübt worden sind, regt man sich einige Tage auf, Kränze werden niedergelegt, Angehörige getröstet und Mahnwachen gehalten. Im Grunde bleibt aber alles beim alten. Hanau ist nicht aus heiterem Himmelgekommen.
Seit 1990 sind in Deutschland nach offiziellen Angaben zufolge ca. 200 Menschen durch rechtsmotivierte Straftaten ermordet worden. Die Ausstellung "Opfer rechter Gewalt in Deutschland", die wir 2013 hier im Kreuzgang des Kulturforums sahen, hat das dokumentiert. Sie hat aber auch gezeigt, dass die Dunkelziffer hoch ist. Von Anfang 2018 bis Mitte 2019 gab es im Kreis Viersen 103 rechtsmotivierte Straftaten. Wissen wir mehr hierüber? Wir bekommen doch nur die Spitze des Eisberges mit. Eine Reihe von Studien hat schon überzeugend nachgewiesen, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ein Bewusstsein mit rechten Tendenzen aufweisen. Durch den Aufstieg der AfD fühlen sich diese Menschen parlamentarisch legitimiert. Das, was man vor einigen Jahren hinter vorgehaltener Hand geäußert hat, spricht man heute öffentlich aus. In der digitalen Welt sind Polizei und Staatsanwaltschaft machtlos oder zeigen wenig Interesse. Das habe ich am eigenen Leib erfahren müssen. In Deutschland wurde die Gefahr durch Rechts lange ausgeklammert. Wir Menschen mit Migrationshintergrund verlieren langsam das Vertrauen in den Staat.
In Kempen betreiben seit fünf Jahren Rechtsextremisten eine Facebook Gruppe mit zahlreichen Usern. Unter denen befinden sich auch Geschäftsleute, Politiker und andere bekannte Persönlichkeiten. Viele von ihnen wissen mit Sicherheit nicht, woran sie da teilnehmen. Aber so fühlen sich Nazis bestätigt. Sie nutzen die Salami-Taktik, um ihre Hassbotschaften unter die Menschen zu bringen. Dafür finde ich keine Worte mehr. Wo bleiben unsere Moral und unser Anstand, meine Damen und Herren? Die AfD ist mitverantwortlich für rechtsextreme Gewalt. Die Rechten haben bei vielen Parteigründungen mitgewirkt, aber noch nie waren sie so erfolgreich wie jetzt mit der AfD.
Wir haben in Kempen Stolpersteine, Mahnmale, Gedenktafeln und einen jüdischen Friedhof. Bis auf die Stolpersteine werden sie von Jugendlichen kaum wahrgenommen. Ich wünsche mir, dass jeder Kempener Schüler, jede Kempener Schülerin wenigstens einmal eine Gedenkstätte besucht. Vom 26. bis zum 28. März ist der Autor und Filmemacher Alwin Meyer, der die Ausstellung „Kinder von Auschwitz“ konzipiert hat, wieder in Kempen. Laden Sie bitte Herrn Meyer in unsere Schulen ein. Es muss noch viel mehr in den Schulen in Kempen und Kreis Viersen getan werden, um Hetze und Hass entgegen zu wirken. Das rechte Gedankengut hat sich wie Vulkanlava unter der Erdkruste jahrzehntelang mehr oder weniger unsichtbar ausgebereitet.Angela Merkels humanitäre Flüchtlingspolitik hat vielen Rechtsextremen einen willkommenen Vorwand geliefert, um sich öffentlich zu äußern und die Demokratie zu unterminieren.
Für mich ist die Grenzöffnung für Flüchtlinge im September 2015 eine große humanitäre Geste gewesen. In der deutschen Nachkriegsgeschichte ist sie anderen bedeutenden Ereignissen gleichzusetzen, etwa dem Mauerfall und dem Kniefall Willy Brandts in Warschau.
Meine Damen und Herren,
anders als zur Zeit der Nazi-Herrschaft leben wir heute in einem weltoffenen und toleranten Kempen. In einer liebenswerten, vielfältigen Stadt. Aber die Zeichen der Zeit scheinen mir bedrohlich zu sein. Wenn wir auch in 25 Jahren die 100-jährige Gedenkfeier in einemweltoffenen und toleranten Kempen erleben wollen, müssen wir noch sehr viel tun, wachsam sein und uns nicht wie in Thüringen verführen lassen.
Vielen Dank für Ihr Zuhören.
Jeyaratnam Caniceus